Für Frauen, die in Not geraten

Im Gespräch mit Ben Walker von Esther Ministries Stuttgart e.V.

„Esther Ministries Stuttgart e.V. ist ein seit 2014 beim Amtsgericht Stuttgart eingetragener und als gemeinnützig und mildtätig anerkannter Verein. (…) Der im Rotlichtmilieu tätige Verein verfolgt die Zielstellung, Personen in Not konkrete Hilfe und Unterstützung zur Veränderung ihrer aktuellen Situation anzubieten.“ ⎼ So heißt es auf der Website (www.esther-ministries.de).

Im Rahmen der Arbeit für Menschen und mit einem bestimmten Blickpunkt auf hilfsbedürftige Frauen traf ich mich am 16.06.2020 mit Mitglied des Vorstands Ben Walker zum Gespräch.


Claudia Martin: Gemäß der Corona-Verordnung [des Landes Baden-Württemberg] ist Prostitution derzeit grundsätzlich verboten. Wie aus vielen Studien, Berichten und polizeilichen Schätzungen hervorgeht, sind viele Prostituierte entgegen der Vorgaben des Prostituiertenschutzgesetzes allerdings nicht bei den Behörden gemeldet. Was passiert mit diesen Frauen?

Ben Walker - Esther MinistriesBen Walker: Unsere Streetworker berichten davon, dass Prostituierte zu Beginn der Pandemie zurück in die Heimatländer gereist sind. Mittlerweile sind viele wieder zurück in Deutschland und arbeiten teilweise unter sehr dubiosen Bedingungen. Aus einer Region in Rheinland-Pfalz wurde uns etwa zugetragen, dass von zwei jungen Männern aus einem Fahrzeug heraus gefragt wurden, wo man Prostituierte denn wieder arbeiten lassen könne.

Ich kann leider wenig darüber sagen, wie die Prostitution derzeit abläuft. Allerdings begeg-nen uns wenige Frauen, die jetzt ein Vielfaches verdienen. Im Zuge der Pandemie und des derzeitigen Prostitutionsverbots können Preise angezogen werden, ja.

Aber gleichzeitig erlaubt es die Krise den Zuhältern, betroffene Frauen noch stärker auszunutzen. Viele werden in Gänze unter Druck gesetzt ⎼ physisch, psychisch und finanziell.

Trotz der gesetzlichen Regelungen fällt es mir schwer, das Thema außerhalb der Kriminalität zu beleuchten. Ich halte das Rotlichtmilieu für eine stark missverstandene Branche. Seitens der Bundespolitik wurde der Versuch unternommen, eine Zunft zu schaffen. Das Problem ist allerdings, dass es aktuell starke Verflechtungen mit Menschenhandel und Clankriminalität gibt.
Diese könnten durch den Ausbau der Prostitution zu einer anerkannten Branche in ihren kriminellen Strukturen gefördert werden.

Claudia Martin: Dem Prostitutionsgesetz von 2002 liegt eigentlich der gute Gedanke zugrunde, Prostituierten aus der Illegalität zu helfen und auch im Rotlichtmilieu Standards wie Kranken- oder Rentenversicherungen einzuführen. Durch das Prostituiertenschutzgesetzt von 2017 kamen andere Verpflichtungen hinzu. Regelmäßige Gesundheitschecks und eine verbindliche Kondompflicht sollen Prostituierte zudem besser vor Krankheiten schützen. Wie kommt es, dass diese Regelungen zum Schutz von Prostituierten in so großer Zahl umgangen werden können?

Ben Walker: Das hat relativ vielschichtige Gründe. Beginnen wir mit der allgemein mangelhaften Kontrolle der Einhaltung der Regelungen. Besonders die Überprüfung der Kondompflicht in Echtzeit ist völlig unrealistisch.

Insgesamt halte ich das verbreitete Bild der „selbstständigen“ Prostituierten für eine Fehlmeinung. Über 90 Prozent der Betroffenen kommt aus dem Ausland, insbesondere aus Rumänien, Bulgarien und Moldawien. Viele Mädchen stammen aus abgelegenen Dörfern oder allgemein ärmlichen bzw. armen Verhältnissen. Wenn ein „Geschäftsmann“ in einem großen Auto vorfährt und eine berufliche Perspektive in Deutschland verspricht, steigen viele junge Frauen ein.

Vor Ort wird ihnen die Sprachbarriere dann häufig zum Verhängnis: Sie sind in Gänze von anderen Menschen abhängig, was entsprechend hart ausgenutzt wird.

Claudia Martin: Ist „Esther Ministries“ primär hier in Stuttgart tätig? Und wie kommt es, dass Sie sich gerade im Bereich der Prostitution engagieren?

Ben Walker: Ja, unser Arbeitsschwerpunkt liegt hier im Großraum Stuttgart. Wir sind aber auch mit mobilen Gruppen in anderen Teilen Baden-Württembergs unterwegs.

Claudia Martin: Und wie kommt es, dass Sie sich gerade im Bereich der Prostitution engagieren?

Ben Walker: Meine Frau und ich sind auf einer Reise in die USA zum ersten Mal mit den Themen Menschenhandel und Prostitution in Kontakt gekommen. Das ging uns sehr nah. Zurück in Deutschland haben wir dann nach Mitteln und Wegen gesucht, wie wir uns im Rahmen der praktischen Ausstiegshilfe engagieren können. In Hamburg lernten wir eine Organisation kennen, die sich im Streetwork, der Prävention und der Nachsorge engagiert. Deren Konzept spiegelt sich auch bei „Esther Ministries“, wodurch wir unsere Arbeit in Stuttgart fortführen können.

Claudia Martin: Mich interessiert, wie sich die Ausstiegshilfe konkret gestaltet. Wie helfen Sie betroffenen Frauen, außerhalb des Rotlichtmilieus Fuß zu fassen? Wie organisieren Sie Unterbringung und Einstieg in ein Leben außerhalb des Milieus?

Ben Walker: Reine Beratung führt zu nichts. Wir haben es hier meiner Ansicht nach eher mit einem Wohnraumproblem zu tun. Die Frauen benötigen eine physische Adresse, damit eine Vermittlung in das Sozialsystem und dem eigentlichen Ziel, der Arbeitsvermittlung, stattfinden kann. Dafür sorgen wir.

„Esther Ministries“ hatte schon vor der Pandemie eine Schutzwohnung, die aufgrund baulicher Probleme leider aufgegeben werden musste. Anschließend haben wir unser Konzept überarbeitet. Inzwischen bieten wir die Möglichkeit, in einer Wohngemeinschaft unterzukommen. Das dafür zur Verfügung stehende Objekt bietet genügend Raum und zugleich eine passende Geheimhaltungsstufe. Hinzu kommen optionale Übernachtungsmöglichkeiten für Helfer*innen.

Soweit die eine Version der Hilfe. Ein anderer Fokus wird durch unser Netzwerk abgebildet. Ich bin sehr dankbar für die Menschen, die unser Ansinnen teilen und uns helfen. Gerade die Versorgung der Frauen, die teilweise stark traumatisiert sind, ist ein wichtiger Punkt. Wir werden vielseitig von Traumatherapeuten und Medizinern unterstützt, die sich den Frauen annehmen und uns ihre geleisteten Stunden spenden.

Claudia Martin: Im Kontext einer Debatte über ein Prostitutionsverbot sprechen sich manche Politiker für das sogenannte „nordische Modell“ (Kriminalisierung der entgeltlichen Inanspruchnahme sexueller Dienstleistungen; Anm. der Red.) aus. Halten Sie dieses Modell für den richtigen Weg oder machen Sie sich Sorgen, dass sich das Rotlichtmilieu letztlich weiter in den Untergrund verlagern könnte?

Ben Walker: Entgegen vieler Erwartungen hat eine Langzeitstudie gezeigt, dass es weder zu mehr Vergewaltigungen noch zu einer Verlagerung in den Untergrund kam. Obwohl ich ein Befürworter des nordischen Modells bin, mache ich mir mittlerweile Gedanken, ob dies der Weg für Deutschland sein kann.

Wir haben es hier mit zutiefst ideologisierten Meinungen zum Rotlichtmilieu zu tun. Wenn man ganz tief gräbt, stoßen wir auf eine Gleichstellungsthematik. In manchen Köpfen geht die Demonstration von Männlichkeit mit einer gewissen Objektivierung der Frau einher – und Prostitution ist sehr weiblich konnotiert.

Wir müssen uns vor allem eines verdeutlichen: Es geht vor allem um die Abschaffung des Systems „Prostitution“. Eine veränderte Gesetzeslage kann hierbei vieles bewirken, doch schlussendlich bedarf es eines Umdenkens auf vielen Ebenen.

Claudia Martin: Was meinen Sie mit System „Prostitution“?

Ben Walker: In Deutschland sowie anderen Ländern der Welt haben wir Problem mit einigen Begrifflichkeiten. Häufig wird ausschließlich die Zwangsprostitution angeklagt, doch das genügt als Betrachtungspunkt nicht. Man muss sich da so vorstellen: Eine Frau wird bspw. im Rahmen ihrer finanziellen Abhängigkeit in die Prostitution gezwungen. Nun steht sie an einem Tag auf der Straße, an einem anderen ist sie in Bordell 1 anzutreffen, am nächsten in Bordell 2 und in der Folgewoche „tanzt“ sie in einem Privatclub auf den Tischen der Gäste.

Das System selbst ist organisiert und gefährlich. Wie gesagt: Wir müssen uns von der Illusion einer selbstbestimmten Prostitution lösen und genau hinschauen. leider sieht man auf den ersten Blick nicht, welche Frau die Tätigkeit freiwillig ausübt und welche nicht.

Claudia Martin: Sie haben vorhin davon gesprochen, dass schätzungsweise 90% der Prostituierten in Deutschland aus dem Ausland kommen – insbesondere aus Osteuropa. Wie können wir vermeiden, dass junge Mädchen aus Rumänien oder Bulgarien in die Prostitution gezwungen werden?

Ben Walker: Ein tolles Beispiel für präventive Arbeit liefert der ehemalige LKA-Beamte Manfred Paulus aus Ulm. Er reist regelmäßig in die besonders betroffenen Gebiete und betreibt wichtige Präventions- und Aufklärungsarbeit – und warnt z. B. vor den Methoden der sogenannten „Loverboys“ (Ein „Loverboy“ ist ein Mann, der, gepaart mit falschen Jobversprechen, eine Liebesbeziehung zu einem Mädchen/einer jüngeren Frau vortäuscht, sie emotional manipuliert, sozial isoliert und anschließend in die Prostitution zwingt; Anm. d. Red.).

Bedauerlicherweise gibt es kaum Aussteigerinnen aus dem Ostblock, da diese häufig ihre heimgebliebenen Familien versorgen müssen. Vor einiger Zeit ist das bayrische LKA darauf aufmerksam geworden, dass sich infolge einer Razzia eines rumänischen Clans viele Rumäninnen aufgrund des ausbleibenden Cashflows an Autobahnraststätten prostituierten.

Wir müssen uns ferner vor Augen führen, dass wir es hier mit hochkriminellen Clanstrukturen zu tun haben, die teilweise ein hohes Maß an Kontrolle über die Heimatdörfer der Frauen haben. Kann ein Familienvater seine Spielschulden nicht begleichen, kann es schnell zur Entführung seiner Tochter kommen. Unser Rahmendenken sowie Strukturschaffen greifen hier schlicht nicht.

Claudia Martin: Ihre Darstellungen haben gezeigt, dass wir noch einen langen Weg vor uns haben. Gleichzeitig machen Bildungs- und Orientierungspläne Hoffnung, dass die nächste Generation mit einem starken Bewusstsein für die Gleichberechtigung von Mann und Frau aufwächst. Sehen Sie eher optimistisch oder pessimistisch in die Zukunft?

Ben Walker: Es braucht einen Paradigmenwechsel. Hierzu können wir alle beitragen – sei es durch gesellschaftliches Engagement oder die Erziehung unserer Kinder. Ich möchte, dass jeder Junge jede Frau als gleichwertige Person ansieht. Aktionen wie der „Walk for Freedom“ machen Hoffnung, dass die Missstände im Rotlichtmilieu langsam auch in der Gesellschaft wahrgenommen werden.


Ich danke Ben Walker für seine Zeit, seine offenen Worte und sehr viel Einblick in eine Welt, die uns häufig verschlossen bleibt. Die Gesellschaft, das heißt: wir alle, brauchen Menschen, die sich für andere einsetzen und ihnen dann eine Stütze sind, wenn diese nicht mehr weiterwissen.

Für weitere Informationen besuchen Sie gern auch die Website des Vereins:
www.esther-ministries.de.

Bleiben Sie gesund!

CM